Vergessenes Denkmal wiederentdeckt
Das Weißenfelser Stadtarchiv hatte im Jahr 2022 insgesamt etwa 237 schriftliche Anfragen; deutlich weniger als im Vorjahr (317 Anfragen). Vor Ort recherchierten insgesamt 121 Personen zu historischen Inhalten. Hier lag der Anteil im Vorjahr mit 128 Terminen auf einem ähnlichen Niveau.
Für die größte Überraschung des Jahres sorgte die Anfrage des Historikers Joachim Säckl. Im Zusammenhang mit der geplanten Umgestaltung der Schlossterrasse hatte dieser alte Baupläne gesichtet, auf denen ein Gegenstand im Zentrum der Baumallee eingezeichnet war. „Tatsächlich fanden wir nach langer Suche ein altes Foto, auf dem ein Denkmal auf der Schlossterrasse zu sehen war“, sagte Archivleiterin Silke Künzel. Auch eine alte Postkarte mit dem Obelisken haben sie gefunden. Weitere Recherchen ergaben, dass der Gedenkstein etwa von 1890 bis 1932 an dieser Stelle stand und an die Gefallenen des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 erinnerte. „Ein Stück Stadtgeschichte, das heute fast keiner mehr kennt und das selbst für uns neu war“, sagte Silke Künzel, die bis dato lediglich von dem Denkmal auf dem Schlossvorplatz Kenntnis hatte, welches 1934 für die Gefallenen des Krieges 1870/71 und des Ersten Weltkrieges aufgestellt worden war.
Neue Erkenntnisse erlangte das Archiv-Team zudem dank einer Anfrage der Stadt Leipzig. Die Messestadt feierte 2022 das 125. Jubiläum der Industrie- und Gewerbeausstellung und stellte in diesem Zusammenhang Recherchen zum Verbleib der ehemaligen Messebauten an. Zwei der Gebäude wurden 1897 nach Weißenfels verkauft. „Eines davon ist das heutige Gartenlokal Gesundheitspflege. Auf der Messe diente das Gebäude einst als Postamt. Das war uns bis dato vollkommen unbekannt“, sagte die Archivleiterin. Bei dem zweiten Messegebäude handelt es sich um die ehemalige Reithalle in Weißenfels West, die 1973 abbrannte und danach abgerissen wurde.
Der Großteil der schriftlichen Anfragen bezog sich aber auf die Ahnenforschung und die Erbenermittlung. Ein Trend, den die drei Mitarbeiterinnen des Stadtarchivs schon seit einigen Jahren beobachten. Dabei erreichten sie nicht nur Schreiben aus Deutschland, sondern auch aus den USA, Brasilien, den Niederlanden, Frankreich und Ungarn. So stellte beispielsweise ein Niederländer Nachforschungen zu dem in Weißenfels geborenen Musiker Gottfried Reiche an, der einst erster Trompeter unter Johann Sebastian Bach war.
Recherchen zur Industriegeschichte sind ein weiterer Trend, der sich seit einigen Jahren im Weißenfelser Stadtarchiv zeigt. Themenschwerpunkte waren hier im vergangenen Jahr die ehemalige Papierfabrik, die Eisenbahn und die Schifffahrt. Der Weißenfelser Autor Prof. Dr. Karl-Heinz Bergk ging zudem der Geschichte des ehemaligen Weißenfelser Verschönerungsvereins auf den Grund. Dieser wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet. Zu Spitzenzeiten setzten sich mehr als 1.000 Mitglieder für die Verschönerung der Stadt Weißenfels ein. Insgesamt währte das Engagement mehr als hundert Jahre. Eine Neugründung des Vereins strebt Oberbürgermeister Martin Papke in diesem Jahr an, um die Bürgerschaft wieder aktiv in die Gestaltung ihrer Heimat einzubinden.
Bei ihren Recherchen stoßen die Archivmitarbeiterinnen zuweilen aber auch auf stadtgeschichtliche Zusammenhänge, die betroffen machen. So stellte das Archiv Ingolstadt Nachforschungen zu NS-Opfern aus ihrer Stadt an. Die Spur der Sinti- und Roma-Familie Schubert führte nach Weißenfels. Tatsächlich konnten das hiesige Archiv-Team nicht nur die Geschichte der siebenköpfigen Familie, sondern auch die Lebensbedingungen der Sinti und Roma in den 1930er Jahren nachzeichnen. Grundlage dafür war die Akte „Zigeunerplage in Weißenfels“. „Schon allein dieser Name spiegelt die damals vorherrschende diskriminierende und verachtende gesellschaftliche Haltung wider“, sagte Silke Künzel. Den Akteneinträgen zufolge kam die Familie von Franz Schubert aus Schlesien mit dem Wohnwagen nach Weißenfels, ließ sich zunächst in der Leipziger Straße nieder und wurde dann von der Stadtverwaltung zum Umzug in die Kiesgrube am Meilenstein gezwungen, wo letztendlich knapp 120 Sinti- und Roma-Familien lebten. Im Jahr 1938 erfolgte die Räumung der Kiesgrube und die Familien mussten in der Aschegrube in der Roßbacher Straße leben. Die lebensunwürdigen Zustände bewegten Familie Schubert zur Flucht nach Ingolstadt. Die verbliebenen Sinti und Roma wurden im März 1943 gefangen genommen und nach Halle abtransportiert. Die enteigneten Wohnwagen verkaufte die Weißenfelser Stadtverwaltung.
Neben der Bearbeitung der zahlreichen Anfragen stellt das Archiv der Stadt Weißenfels auch selbst Nachforschungen zu bestimmten Themen an. So wurden im vergangenen Jahr Protokolle der Stadtratsversammlungen von 1980 bis 1990 aufgearbeitet. Bei der früheren Verzeichnung der Akten waren lediglich die Termine der Stadtratssitzungen angegeben. „Viel wichtiger für das stadtgeschichtliche Verständnis sind jedoch die Inhalte der Beschlüsse. Zumal zur DDR-Geschichte generell nur sehr wenige Informationen überliefert sind“, erklärte die Archivleiterin. Darüber hinaus wurde der Fotobestand des Archivs überarbeitet und häufige Reproduktionen von Motiven heraussortiert. Die historischen Altbestände wurden ebenfalls weiter erschlossen. Auch über Schenkungen konnten sich die Mitarbeiterinnen wieder freuen; darunter alte Fotos von Weißenfels, das Buch „Burgwerben“ von Reinhard Schmitt und ein Buch zu Winzerfesten in der Region.
Ein stetig wachsendes Problem, das die Mitarbeiterinnen umtreibt, ist die räumliche Situation des Archives. Die Kapazitäten für die Unterbringung von Archivgut sind seit Jahren ausgeschöpft. Sowohl das historische Stadtarchiv in der Großen Burgstraße als auch die sechs anderen Standorte sind ausgelastet. Seitdem der Stadtrat im Jahr 2020 den Neubau eines zentralen Stadtarchivs im Hof des Novalishauses gestoppt hat, gab es keinen neuen Standortvorschlag. „Trotz der vielen aktuellen Großbauprojekte ist es für uns sehr wichtig, dass das Archiv bei den städtischen Ingenieuren, den politischen Entscheidungsträgern und der Stadtgesellschaft im Fokus bleibt“, sagte Silke Künzel.